Es ist nicht mehr überall üblich, aber in Wolfenhausen wird die Kirchturmuhr der evangelischen Kirche bis heute noch durch Muskelkraft aufgezogen. Seit inzwischen acht Jahren versieht Thomas Luft diesen Dienst für die Dorfgemeinschaft. Was immer funktioniert, nimmt jedermann als selbstverständlich hin: Man hat sich im täglichen Einerlei daran gewöhnt. Schließlich existiert die oben genannte Einrichtung seit dem Jahre 1906. Damals richtete die Firma Weule, Bockenem (Harz), eine Kirchturmuhr in der Wolfenhäuser Kirche ein, die den hier Lebenden fortan auf drei Ziffernblättern die Zeit visuell und mittels Glockenschlag auch akustisch mitteilte. Taschen- und andere Uhren waren damals für die meisten Menschen unerschwinglich und in einer ländlichen Region wie der unsrigen auch völlig überflüssig. Die Glocken im Kirchturm schlugen den Takt des Alltags der Dörfler. Und die Wolfenhäuser Uhr war bei ihrer Einrichtung sogar (fast) auf der Höhe ihrer Zeit. Während Uhren vorangegangener Jahrhunderte täglich aufgezogen werden mussten, war dies bei der Wolfenhäuser Uhr nur noch einmal wöchentlich nötig. Aus Sicherheitsgründen wurde jedoch unterhalb der beiden Uhrengewichte ein gezimmerter und mit Split gefüllter Holzkasten aufgestellt. Dieser soll im Falle des Reißens eines Drahtseils verhindern, dass eines der beiden zentnerschweren Gewichte den Kirchenhimmel durch- und etwaige Kirchenbesucher erschlagen würde. Seitdem so die Fallhöhe für die beiden Gewichte verkürzt wurde, muss alle sechs Tage „aufgezogen“ werden. Dies geschieht mittels einer Kurbel, mit der zwei kräftige Drahtseile mithilfe von Flaschenzügen nacheinander auf zwei Winden gedreht werden. Nach diesem „Aufziehen“ hängen die beiden zylindrischen Gewichte (jeweils 52 kg schwer) in etwa acht Metern Höhe über dem Dachboden. Die auf sie einwirkende Erdanziehungskraft ermöglicht das Anschlagen der Glocken, aber nicht mehr den Betrieb der Uhr an sich. Natürlich haben Kirchturmuhren heute nicht mehr die Bedeutung früherer Zeiten. Und leider wird ihr Glockenschlag oft schon in geringer Entfernung vom allgemeinen Verkehrslärm verschluckt. Aber sollten die beiden Gewichte einmal auf besagtem Holzkasten liegen, ohne rechtzeitig wieder hochgezogen worden zu sein, merkt es irgendwann das ganze Dorf: Zwar zeigen die Zifferblätter weiterhin die korrekte Zeit an, aber das Schlagwerk schweigt. Die Firma Weule hätte schon 1906 eine elektrisch betriebene Uhr liefern können; aber die Versorgung mit Strom begann in Wolfenhausen erst 1922. Doch in einer Hinsicht ist die Wolfenhäuser Turmuhr inzwischen auf der Höhe der Zeit: Ihr Pendel wurde in den Ruhestand geschickt, ihre Ganggenauigkeit verdankt sie dem Signal einer Atomuhr bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, die Ansteuerung erfolgt elektronisch. Nur der Viertelstunden- und der Stundenschlag funktionieren bis heute immer noch rein mechanisch. Der Grund? Mitte der Neunzigerjahre und zuletzt 2007 haben die jeweils amtierenden Kirchenvorstände verabredet, die wertvolle alte Turmuhr nicht außer Dienst zu stellen, sondern ihren mechanischen Betrieb mit der raffiniert ausgeklügelten Funktionsweise beizubehalten. Das koste zwar die beschriebenen Mühen sowie die regelmäßige Wartung durch eine Fachfirma, halte jedoch ein Werk vergangener Generationen lebendig, statt die Uhr ins Museum abzuschieben oder meistbietend zu verscherbeln. Zum Glück besteht für die Kirchengemeinde derzeit noch kein dringender Handlungsbedarf: also keine vollständige Umstellung auf elektrischen Betrieb!
Wenn also das Schlagwerk schweigt, so ist der „Schuldige“ für dieses Missgeschick schnell gefunden: Es ist der gerade verantwortliche „Uhraufzieher“, gewissermaßen der „Glöckner von Wolfenhausen“. Seit etwa 1940 haben die Herren Karl Stamm, Heinrich Stamm, Hugo Höpp, Erhard Geiß, Heinz Jung, Edgar Reuter, Diethelm Pabst, Harald Fink und Wilfred Erbe diesen wertvollen Dienst für die Gemeinschaft wahrgenommen. Sie haben dafür gesorgt, dass man genaue Zeit und Schlag vom Kirchturm immer für selbstverständlich halten musste. Seit acht Jahren tut dies Thomas Luft. Wie seine Vorgänger muss er alle sechs Tage zur Kirche gehen, die Treppe hochsteigen und anschließend die steile Stiege zum Dachboden erklimmen, mit beiden Händen die aufgesteckte Kurbel fassen und sie pro Gewicht 27-mal drehen. Da dies an wechselnden Wochentagen zu geschehen hat, ist eine sorgfältige Terminplanung erforderlich, für die ein modernes Smartphone sicherlich eine wichtige Organisationshilfe bietet. Trotzdem: eine verantwortungsvolle Tätigkeit, die große Zuverlässigkeit und eine schöne Portion Idealismus erfordert! Denn es handelt sich um ein rein ehrenamtliches Tun, für das im Haushalt der Kirchengemeinde keinerlei Entlohnung vorgesehen ist. So wird sich der Kreis etwaiger Interessenten vermutlich schnell verkleinern. Thomas Luft, der aktuelle „Glöckner“ von Wolfenhausen, wird wohl noch ein bisschen weitermachen müssen. Er hat es sich ja schließlich auch selbst eingebrockt, als er damals, 2007, im Kirchenvorstand, dem er angehörte, für die Beibehaltung des mechanischen Betriebs plädiert hat. Aber auf sein Wort war und ist Verlass, inzwischen seit acht Jahren.
Dieter Schmidt
Quelle: Gemeindezeitung September 2017
Bildquellen
- Glöckner-Thomas-Luft: © https://wolfenhausen-im-taunus.de
Last modified: 22. Dezember 2020